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26.04.2010

"Lueg-is-Land"

Als Kind war ich dünn.
Ich ass zu wenig.
Die Mutter machte sich Sorgen und liess mich vom Hausarzt untersuchen.
Dieser meinte, ich erinnere mich wortwörtlich:
"Hanneli, wenn nit meh issisch, chasch nie in ä höcheri Schuel!"
Ich musste also lernen, besser und mehr zu essen.
Und so wurde ich als achtjähriges Schulkind während der ganzen Sommerferien zur Erholung in ein Kinderheim geschickt. Hoch über dem Thunersee, auf dem Beatenberg, lag es.
Sein Name tönte heimelig und naturverbunden: "Lueg-is-Land".
Das Heimleiterehepaar erschien mir alt.
Die drei Erzieherinnen hingegen, denen wir Tante sagen mussten, waren jung.
An zwei Dinge habe ich eine ganz genaue Erinnerung:
Da war das Schlafzimmer, in dem sechs Betten standen. Je drei in einer Reihe.
Pro Reihe gab es einen Nachttopf, der sich im Laufe der Nacht mehr und mehr zu füllen begann und schon einmal überlief.
Und da gab es die 'Liege' nach dem Mittagessen.
Alle Kinder mussten sich ins Bett zurückziehen, ruhen und schlafen. Lesen war nicht erlaubt. Zusammen sprechen und tuscheln war streng verboten, was für lebhafte Kinder nicht durchzuhalten war. Wurde man von der die Liegezeit kontrollierenden Tante erwischt, gab es am nächsten Tag Strafliege.
Die wäre vermutlich nicht so schlimm gewesen, wenn man in der Dunkelheit des Zimmers nicht so allein gewesen wäre.
Nach fünf Wochen war die Erholungszeit vorbei. Ich durfte heim. Die Mutter erzählte mir noch viele Jahre später, ich war längst erwachsen, sie sei bei meinem Anblick fast zu Tode erschrocken.
So bleich und krank hätte ich ausgesehen.
Ich musste nie mehr in ein Erholungsheim.

Letzte Woche besuchten wir Beatenberg, das 7 km lange Dorf im Berner Oberland.
Ich versuchte mich zu erinnern, wo das Heim gestanden haben könnte.
Dabei kam ich ins Gespräch mit einer freundlichen, alten Frau, die in ihrem Garten jätete. Sie hatte ihr ganzes Leben im Dorf verbracht und wusste, was aus dem Heim mit dem schönen Namen geworden war:
Es wurde abgerissen und an seiner Stelle eine Wohnsiedlung gebaut...





7 Kommentare:

  1. Diese "netten" Erziehungsmethoden waren damals wohl der "letzte Schrei" in der "ErzieherInnen-Ausbildung". Die hiessen damals tatsächlich so und waren auch so. Ich hätte da auch einige Müsterchen zu erzählen...

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  2. Nur zu mit diesen Müsterchen,
    lieber BodeständiX,
    ich habe ein offenes Ohr dafür. Der Ausflug auf den Beatenberg und das Erzählen davon hat bereits bei einigen Leuten ähnliche Erinnerungen hervorgeholt...

    Einen schönen Abend wünscht dir
    Hausfrau Hanna

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  3. Liebe Hausfrau Hanna, was kümmerst du dich jetzt um Vergangenes? Richte den Blick vorwärts! Lässt dich die freudige Erregung nicht schon fast fliegen? Nur Mut, du wirst es prima packen, zweifelsohne! ;-)

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  4. Nicht fliegen,
    liebe Ursula,
    bahnfahren ;-)
    Und dank deiner unterstützenden Worte in meinen Ohren w e r d e ich es packen.
    Einen schönen Tag wünscht dir
    Hausfrau Hanna

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  5. Hallo, wollte einmal fragen, ob sich jemand an eine Schwester Ruth oder Schwester Rita erinnert, welche vor ca 50-60 Jahren im Kinderheim Lueg is Land auf dem Grafenberg gearbeitet hat? Was war sie für ein Mensch und wie war ihr Umgang mit Kindern. Bin für jeden Hinweis sehr dankbar.Freundliche Grusse Farida

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  6. Sorry, meinte Beatenberg, nicht Grafenberg, die Sonne hatte mich geblendet.

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  7. Ich muss immer wieder daran denken,wie schlimm das war in diesem Kinderheim.Ich habe gelitten und konnte es kaum erwarten,bis mich meine Eltern wieder nach Hause holten.

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