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28.11.2013

Zwischen zwei Haltestellen (52)

Im 8er Tram versperrt an einer ungünstigen Stelle ein Rollstuhl den Weg.
Niemand sitzt darin, er ist vollgestopft mit Plastiksäcken und Petflaschen.
Ich setze mich auf einen freien Platz mit dem Rücken zur Fahrtrichtung.
Da es mich Wunder nimmt, wem der Rollstuhl gehört, wende ich mich halb um und lasse den Blick schweifen. Ich sehe einen schmächtigen, nicht mehr jungen Mann mit einer Baseballmütze und einer Gesichtsfarbe, die für diese Jahreszeit sehr gebräunt aussieht.
Plötzlich beugt sich der Mann zum Rollstuhl, greift in eine der Plastiktüten und zieht zuerst einen Spiegel hervor.
Dann trägt er Lippenstift auf, umrandet die Augen mit Kajal und deckt die Wangen mit Rouge und Puder ab. Dies alles geschieht langsam und sorgfältig.
Eine junge Frau schaut ebenfalls zu. Mit verständnisvollen Augen und einem kleinen Lächeln.
Als ich aussteige, durchfährt es mich plötzlich:
Das öffentliche Verkehrsmittel ersetzt dem Mann das Zuhause. Sein ganzer Besitz findet Platz im Rollstuhl.
Warum es jedoch ein Rollstuhl ist, vermag ich nicht einzuordnen.
Und das beschäftigt mich noch eine ganze Weile...


4 Kommentare:

  1. Das Leben schreibt die eindrücklichsten Geschichten! Und Sie können sie so lebendig umsetzen, liebe Hanna. Keine Fiktion kommt da nur annähernd heran...

    Ja, da wird man sehr nachdenklich!

    Liebe Grüsse,
    Quer

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  2. Ein Mann schminkt sich in aller Öffentlichkeit. Was hätte sich in meinen Augen gespiegelt? Verwunderung ganz sicher...
    Dass es die H.H. noch eine Weile beschäftigt hat, glaube ich gerne, war es doch ziemlich unalltäglich...

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  3. Vielleicht macht diese Zeit im November und Dezember durchlässiger für die Brüchigkeit des Lebens,
    liebe Frau Quer,
    der Mann mit dem Rollstuhl und seinen von Sorgfalt geprägten Handlungen haben sich mir jedenfalls tief eingeprägt.

    Herzlich Hausfrau Hanna

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  4. Verwundert hat mich mehr,
    liebe Frau Quer,
    dass niemand gemeckert hat wegen des unmöglich hingestellten Rollstuhls, der das Durchkommen verunmöglichte.
    Das Schminken selbst geschah übrigens als völlig selbstverständliches Ritual, der Mann nahm keine Notiz von uns.

    Herzlich Hausfrau Hanna

    Herzlich Hausfrau Hanna

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