Heute Morgen lese ich als Erstes die
Tageszeitung.
Beim Ressort 'Kultur' auf Seite 43 fällt mir ganz weit unten eine Überschrift auf, die mich mitten ins Mark trifft.
Als ich den ganzen Beitrag zu Ende gelesen habe, nehme ich meine im Schoss gefalteten Hände wahr.
Leider wusste ich nicht, wie ich Sibylle Bergs Beitrag als Link kopieren konnte.
Deshalb steht er hier in ganzer Länge.
Lesen! Unbedingt lesen!
Keiner weint um Agota Kristof
Von Sibylle Berg
Die bedeutendste Schriftstellerin der Schweiz ist tot. Und keiner weint. Ich kenne keinen der weint, ich sehe kein Denkmal, das für Agota Kristof errichtet wird, ich sehe keine Strassen nach ihr benannt, und falls es einen helvetischen Verdienstorden gäbe, hat sie ihn nie bekommen. Da sass ein Genie in nicht besonders grossartigen finanziellen Verhältnissen in Neuchâtel – seit Jahrzehnten – und kämpfte um sein Überleben.
Und wir haben es sterben lassen. Zu sperrig, zu komisch, zu wenig podiumstauglich war Kristof und einen Buchpreis hat sie auch nicht bekommen, den geben wir lieber einem feinen, mittelmässigen Autoren, einem, der nicht aus der Masse ragt. Was bin ich wütend. Wütend, wegen der vertanen Chance des Landes, stolz auf ein Genie zu sein, das hier gewohnt hat. Welches Genie wohnt schon hier, und das freiwillig.
Da ist Kristof in ihrer Wohnung gehockt und hat gefroren und sich bis zum Schluss gefragt, ob das etwas taugt, was sie da schreibt. Unter Qualen ist sie da gesessen, denn immer war es ihr wie eine Krankheit, das Schreiben in einer Fremdsprache. Mensch, da hätten wir doch sogar jemanden mit echtem Migrationshintergrund gehabt – Agota, die in der Fabrik geschuftet hat, ohne ein Wort Französisch zu verstehen, die Sprache erlernte, als erwachsene Frau um dann Weltliteratur zu schaffen. Das werden wir schon noch verstehen, in hundert Jahren, wenn ihr Werk in den Kanon eingegangen sein wird, genehmigt und abgestempelt, dann wird es ein Denkmal für Kristof geben. Hurra. Agota Kristof hätte Liebe so gut getan, aber sie war eine Frau, sie war alt, vielleicht hat sie getrunken – das war nichts zum Vorzeigen.
Und die Bücher, so dünn waren sie, weil die ganze Welt heruntergekürzt darin stattfand, auf hundert Seiten. Nichts schwatzte da und nahm sich wichtig, nichts zitierte alte gefällige Stile, da war etwas ganz Neues entstanden, eine eigene Sprache, aussergewöhnlich und einmalig.
Bitte kaufen Sie Agota Kristofs «Grosses Heft» lesen Sie es, pilgern Sie zu ihrem Grab, verlangen Sie nach Plätzen mit ihrem Namen und bringen Sie ihr ein paar Blumen mit. Vielleicht ist es noch nicht zu spät. Vielleicht bekommt sie noch ein wenig mit, von der Liebe, die sie so dringend gebraucht hätte.
In der Kolumne «bergblick» erklärt uns
Sibylle Berg jeden Samstag die Welt.