Sommer. Ferien. Reisezeit.
Ich habe einen Beitrag ausgegraben, den ich vor vier Jahren als Gast im Blog von Bodeständix geschrieben habe. Ich gebe den Beitrag leicht gekürzt wieder.
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Als ich mit meinen Geschwistern nach dem Tode von Vater und Mutter das
Elternhaus räumte, fand ich zwischen den gelesenen und ungelesenen Büchern und
den über die Jahrzehnte angesammelten Gegenständen mit emotionaler Bedeutung ein
dünnes Ringheft, das die Mutter aufbewahrt hatte. Darin erzählte Emilie, die ein
Jahr jüngere Schwester meiner Grossmutter, ihr Leben.
Ich las, wie beengt und arm, aber auch wie genügsam Grossmutter und
Grosstante aufwuchsen in einer Familie mit dreizehn Kindern, von denen jedoch
nur acht überlebten.
Ich sah das Schulkind Emilie vor mir, das trotz des hellen Köpfchens und lauter
Einsern im Zeugnis nicht weiter zur Schule gehen konnte, weil die höhere Schule
Geld kostete. Und Geld besass man nicht.
Ich hatte einen Kloss im Hals, als ich vom Schicksal Marielis erfuhr, der
zweijährigen Schwester, die im Kanal, in dem die Frauen ihre Wäsche wuschen,
ertrank.
Und ich las Emilies frühkindliche Erinnerung, die wach und lebendig
blieb bis ins hohe Alter:
"Als ich drei Jahre alt war, wanderte mein Bruder
Emil nach Amerika aus. Er schloss sich einer Bauernfamilie aus dem gleichen
Dorf an, die sich in der ‚Neuen Welt’ eine bessere Zukunft erhoffte. Ich sehe
jetzt noch den vollbepackten Wagen zur Abfahrt bereit stehen. Auch das Lied,
das zum Abschied gesungen wurde, hat sich mir eingeprägt. Die Mutter weinte,
als hätte sie geahnt, dass sie ihren Sohn nie mehr sehen würde. Obwohl Emil im
Staate Iowa ein erfolgreicher Farmer wurde, kehrte er nie wieder nach Hause
zurück. Zwei Jahre nach ihm zog auch der älteste Bruder Hans nach Amerika. Emil
hatte ihm das Reisegeld geschickt."
So wie meine zwei unbekannten Grossonkel mussten anfangs des 20. Jahrhunderts notgedrungen
viele junge Menschen auswandern, ohne Option, ihre Familie und die Nächsten je
wieder zu sehen. Auch vor 100 Jahren, die so weit weg scheinen heute, war das
ein qualvoller Verlust: Schweres Heimweh, Unruhe, Depressionen und
psychosomatische Krankheiten gehörten bestimmt zum Alltag, vor allem für jene,
die sich nicht anpassen konnten oder sich schwer taten.
Beeindruckt war ich auch von Emilies knappen, ehrlichen
Beschreibungen aus ihrem Alltag als Ehefrau und mehrfache Mutter. Dank ihrer
Fröhlichkeit und Tatkraft ertrug sie ihr nicht einfaches Leben mit einem
Ehemann, der einerseits kein 'Hockleder' besass, andererseits aber den 'Meister' spielte, wenn er einmal zuhause war. Dem Frieden zuliebe lernte sie
früh etwas, was Frauen vertraut war damals:
Schlucken und schweigen anstatt Krach zu
schlagen!
Dann atmete sie tief durch und sang. Und das Singen half ihr, über
erlittene Ungerechtigkeiten hinwegzukommen und zu ihrer naturgegebenen
Fröhlichkeit zurückzufinden.
Ihre Erinnerungen endeten mit diesem Satz:
"Und wenn einmal meine letzte Stunde gekommen ist, dann möchte ich friedlich einschlafen dürfen."
PS. Das durfte sie.
PPS. Emilie, meine lebensheitere Grosstante, starb hochbetagt mit 101 Jahren.