Dieses Blog durchsuchen

15.07.2013

Hausfrau Hannas Herkunft


Sommer. Ferien. Reisezeit.
Ich habe einen Beitrag ausgegraben, den ich vor vier Jahren als Gast im Blog von Bodeständix geschrieben habe. Ich gebe den Beitrag leicht gekürzt wieder.

***

Als ich mit meinen Geschwistern nach dem Tode von Vater und Mutter das Elternhaus räumte, fand ich zwischen den gelesenen und ungelesenen Büchern und den über die Jahrzehnte angesammelten Gegenständen mit emotionaler Bedeutung ein dünnes Ringheft, das die Mutter aufbewahrt hatte. Darin erzählte Emilie, die ein Jahr jüngere Schwester meiner Grossmutter, ihr Leben.
Ich las, wie beengt und arm, aber auch wie genügsam Grossmutter und Grosstante aufwuchsen in einer Familie mit dreizehn Kindern, von denen jedoch nur acht überlebten.
Ich sah das Schulkind Emilie vor mir, das trotz des hellen Köpfchens und lauter Einsern im Zeugnis nicht weiter zur Schule gehen konnte, weil die höhere Schule Geld kostete. Und Geld besass man nicht.
Ich hatte einen Kloss im Hals, als ich vom Schicksal Marielis erfuhr, der zweijährigen Schwester, die im Kanal, in dem die Frauen ihre Wäsche wuschen, ertrank.

Und ich las Emilies frühkindliche Erinnerung, die wach und lebendig blieb bis ins hohe Alter:

"Als ich drei Jahre alt war, wanderte mein Bruder Emil nach Amerika aus. Er schloss sich einer Bauernfamilie aus dem gleichen Dorf an, die sich in der ‚Neuen Welt’ eine bessere Zukunft erhoffte. Ich sehe jetzt noch den vollbepackten Wagen zur Abfahrt bereit stehen. Auch das Lied, das zum Abschied gesungen wurde, hat sich mir eingeprägt. Die Mutter weinte, als hätte sie geahnt, dass sie ihren Sohn nie mehr sehen würde. Obwohl Emil im Staate Iowa ein erfolgreicher Farmer wurde, kehrte er nie wieder nach Hause zurück. Zwei Jahre nach ihm zog auch der älteste Bruder Hans nach Amerika. Emil hatte ihm das Reisegeld geschickt."

So wie meine zwei unbekannten Grossonkel mussten anfangs des 20. Jahrhunderts notgedrungen viele junge Menschen auswandern, ohne Option, ihre Familie und die Nächsten je wieder zu sehen. Auch vor 100 Jahren, die so weit weg scheinen heute, war das ein qualvoller Verlust: Schweres Heimweh, Unruhe, Depressionen und psychosomatische Krankheiten gehörten bestimmt zum Alltag, vor allem für jene, die sich nicht anpassen konnten oder sich schwer taten.

Beeindruckt war ich auch von Emilies knappen, ehrlichen Beschreibungen aus ihrem Alltag als Ehefrau und mehrfache Mutter. Dank ihrer Fröhlichkeit und Tatkraft ertrug sie ihr nicht einfaches Leben mit einem Ehemann, der einerseits kein 'Hockleder' besass, andererseits aber den 'Meister' spielte, wenn er einmal zuhause war. Dem Frieden zuliebe lernte sie früh etwas, was Frauen vertraut war damals: 
Schlucken und schweigen anstatt Krach zu schlagen! 
Dann atmete sie tief durch und sang. Und das Singen half ihr, über erlittene Ungerechtigkeiten hinwegzukommen und zu ihrer naturgegebenen Fröhlichkeit zurückzufinden.

Ihre Erinnerungen endeten mit diesem Satz: 
"Und wenn einmal meine letzte Stunde gekommen ist, dann möchte ich friedlich einschlafen dürfen."

Vergissmeinnicht


PS. Das durfte sie. 
PPS. Emilie, meine lebensheitere Grosstante, starb hochbetagt mit 101 Jahren.




14 Kommentare:

  1. Eine schöne und zugleich natürlich traurige Geschichte...

    AntwortenLöschen
  2. Liebe Hausfrau Hannah,
    genau von diesen Auswanderern handelt der aktuelle Roman, an dem ich gerade sitze. Heute gehen die letzten Seiten ins Lektorat.
    Die Geschichte deiner Großtante hat mich jetzt für den Endspurt beflügelt. Danke dafür.

    Liebe Grüße
    Jutta

    AntwortenLöschen
  3. Es ist wunderbar und auch etwas traurig - an solche Erinnerungen anknüpfen zu dürfen. Im Wesentlichen decken sich die meisten "Rückblicke" unserer Generation mit solchen Einzelschicksalen. Ja, die alten Zeiten waren nicht nur gut...
    Ich bin ziemlich nachdenklich geworden beim Lesen!

    Herzliche Grüsse,
    Brigitte

    AntwortenLöschen
  4. Und eine alltägliche Geschichte,
    lieber Titus,
    wie sie wohl früher 'normal' war...

    Schön, dass du wieder in die Bloggerwelt zurückgekehrt bist :)))

    Herzlich Hausfrau Hanna

    AntwortenLöschen
  5. Da schaue ich deinem neuen Roman mit dem Auswandererthema ganz gespannt entgegen,
    liebe Jutta,
    und wünsche dir für den Endspurt leichte Sommerflügel!

    Herzlich Hausfrau Hanna

    AntwortenLöschen
  6. Ja, sie erlebten viel Schwieriges, Schweres und Mühsal und liessen so wenig verlauten davon,
    liebe Frau Quer,
    ich habe grossen Respekt und Bewunderung für meine 'Ahninnen'.
    Und die gute alte Zeit war keineswegs so wie man sie gern verklärend darstellt...

    Herzlich Hausfrau Hanna

    AntwortenLöschen
  7. Wirklich eine schöne Geschichte, die berührt. Viele von uns haben sicherlich Grosseltern, die ähnliche Lebensumstände erfahren mussten wie deine Grosstante Emilie ...
    Ich muss oft an meine Oma denken, die beim 1. Krieg nicht ganz 10 Jahre alt war und beim 2. schon Mutter von 4 Kindern ...
    Sollten wir nicht öfters daran denken, wenn wir heutigen Migranten begegnen ... die Menschen, die jeden Tag in Süditalien auf Lampedusa ankommen, wünschen sich doch auch nur eine bessere Zukunft in einem reicheren Land ... warum erscheint es dann so schwer für uns, dies zu akzeptieren, wenn wir doch nur 1-2 Generationen zurück ähnliche Schicksale/Beweggründe in der eigenen Familie haben ...
    frage ich mir hier in Schweden an der "västkusten"

    AntwortenLöschen
  8. Es sind diese alltäglichen 'Biografien',
    liebe Frau Västküsten,
    die mir immer wieder tief unter die Haut gehen.
    Früher waren es junge Männer aus der Schweiz oder aus dem ebenfalls armen Agrarland Schweden, die aus Verzweiflung und Perspektivelosigkeit meist in die USA auswanderten.
    Und heute sind die ehemaligen Auswandererländer selbst zum 'gelobten Land' geworden...

    Hjärtliga hälsningar till Sveriges västkusten
    Hausfrau Hanna

    AntwortenLöschen
  9. Das war eine gute Lektüre jetzt, am heißen Sommernachmittag!
    Nicht nur früher und damals war Frauen das "Schlucken" bekannt, sogar antrainiert- durchaus z.B. in meiner Nachbarschaft zu beobachten...
    Danke für diese Hannaeinblicke-rückblicke...

    AntwortenLöschen
  10. Die Frauen waren abhängig, schluckten und schwiegen,
    liebe Frau Wildgans,
    und die Männer schluckten auf andere Weise, in flüssiger Form. Und polterten. Ja, so war das häufig damals.

    Und ich dachte, heute wäre das anders:
    Nachdenklich machen Ihre Beobachtungen schon...

    Mit einem Gruss über die Grenze
    Hausfrau Hanna

    AntwortenLöschen
  11. Was für uns Geschichten aus einer anderen Zeit sind, war für die Generationen vor uns (bittere) Realität.
    Das ist mir bewusst geworden als ich am Mauermuseum in Berlin war, wo Reste der alten DDR-Grenzanlagen zu sehen sind und sich die Touristen aus aller Welt drängen. Eine französische Schulklasse hatte die Mauer auf dem (Pflicht?-)Programm. Gelangweilt oder albern, gackerten sie vor den Info-Tafeln. Ich kann ihnen keinen Vorwurf machen. Für sie ist es nur irgendwas, was vor ihrer Zeit geschah. Für mich war das aber Realität und mein Leben.
    Apropos Auswandern: Ich lese gerade Utvandrarna von Vilhelm Moberg. Es geht um die bitteren Jahre vor ca. 160 Jahren in Schweden. Lesenswert - falls Du das nicht schon längst getan hast.
    Liebe sommerliche Grüsse von der Westküste
    Claudia

    AntwortenLöschen
  12. 'Utvandrarna' mit Liv Ullmann und Max von Sydow habe ich nur im Kino gesehen,
    liebe Smultronella,
    vor langer Zeit und mit bleibendem Eindruck. Ich kenne jedoch das Taschenbuch, dessen Umschlag von einer begabten, jungen Stickerin gestaltet wurde, die ein Blog hat:
    Brodösens blogg (in meiner Blogroll).

    Zu deinem Erlebnis im Mauermuseum mit den desinteressierten Jugendlichen:
    Die meisten Jugendlichen erleben so etwas tatsächlich anders - weit weg und fern. Und sie müssen (und werden) ihre eigenen Erfahrungen machen. Die sie prägen...

    Herzlich grüsst dich vom Rhein an die Westküste Schwedens
    Hausfrau Hanna

    AntwortenLöschen
  13. Ja genau dieses gestickte Taschenbuch habe ich. Die Innenseite zeigt die Rückseite der Stickereien. Herrlich!
    Herzliche Grüsse an die Urlauberin!
    Claudia

    AntwortenLöschen
  14. Genau dieses TB meinte ich,
    liebe Smultronella,
    und ich werde es beim nächsten Aufenthalt in Stockholm kaufen :)

    Frische Grüsse durch den leise und sanft herunterströmenden Regen
    Hausfrau Hanna

    AntwortenLöschen