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06.08.2011

Zum Tode von Agota Kristof


Heute Morgen lese ich als Erstes die Tageszeitung.
Beim Ressort 'Kultur' auf Seite 43 fällt mir ganz weit unten eine Überschrift auf, die mich mitten ins Mark trifft.
Als ich den ganzen Beitrag zu Ende gelesen habe, nehme ich meine im Schoss gefalteten Hände wahr.

Leider wusste ich nicht, wie ich Sibylle Bergs Beitrag als Link kopieren konnte.
Deshalb steht er hier in ganzer Länge.
Lesen! Unbedingt lesen!


Keiner weint um Agota Kristof
Von Sibylle Berg

Die bedeutendste Schriftstellerin der Schweiz ist tot. Und keiner weint. Ich kenne keinen, der weint, ich sehe kein Denkmal, das für Agota Kristof errichtet wird, ich sehe keine Strassen nach ihr benannt, und falls es einen helvetischen Verdienstorden gäbe, hat sie ihn nie bekommen. Da sass ein Genie in nicht besonders grossartigen finanziellen Verhältnissen in Neuchâtel – seit Jahrzehnten – und kämpfte um sein Überleben.

Und wir haben es sterben lassen. Zu sperrig, zu komisch, zu wenig podiumstauglich war Kristof und einen Buchpreis hat sie auch nicht bekommen, den geben wir lieber einem feinen, mittelmässigen Autoren, einem, der nicht aus der Masse ragt. Was bin ich wütend. Wütend, wegen der vertanen Chance des Landes, stolz auf ein Genie zu sein, das hier gewohnt hat. Welches Genie wohnt schon hier, und das freiwillig.
Da ist Kristof in ihrer Wohnung gehockt und hat gefroren und sich bis zum Schluss gefragt, ob das etwas taugt, was sie da schreibt. Unter Qualen ist sie da gesessen, denn immer war es ihr wie eine Krankheit, das Schreiben in einer Fremdsprache. Mensch, da hätten wir doch sogar jemanden mit echtem Migrationshintergrund gehabt – Agota, die in der Fabrik geschuftet hat, ohne ein Wort Französisch zu verstehen, die Sprache erlernte, als erwachsene Frau um dann Weltliteratur zu schaffen. Das werden wir schon noch verstehen, in hundert Jahren, wenn ihr Werk in den Kanon eingegangen sein wird, genehmigt und abgestempelt, dann wird es ein Denkmal für Kristof geben. Hurra. Agota Kristof hätte Liebe so gut getan, aber sie war eine Frau, sie war alt, vielleicht hat sie getrunken – das war nichts zum Vorzeigen.
Und die Bücher, so dünn waren sie, weil die ganze Welt heruntergekürzt darin stattfand, auf hundert Seiten. Nichts schwatzte da und nahm sich wichtig, nichts zitierte alte gefällige Stile, da war etwas ganz Neues entstanden, eine eigene Sprache, aussergewöhnlich und einmalig.
Bitte kaufen Sie Agota Kristofs «Grosses Heft» lesen Sie es, pilgern Sie zu ihrem Grab, verlangen Sie nach Plätzen mit ihrem Namen und bringen Sie ihr ein paar Blumen mit. Vielleicht ist es noch nicht zu spät. Vielleicht bekommt sie noch ein wenig mit, von der Liebe, die sie so dringend gebraucht hätte.


In der Kolumne «bergblick» erklärt uns Sibylle Berg jeden Samstag die Welt.



6 Kommentare:

  1. Laut Wikipedia hat Kristof sieben Bücher geschrieben und für zwei davon einen Preis erhalten. Insgesamt hat sie zehn Auszeichnungen bekommen, darunter den Gottfried-Keller-Preis.
    Das ist nicht nichts.

    Mag sein, dass Frau Berg mit ihrer Aussage den Kern trifft, das kann ich nicht beurteilen, aber von ehrlichem Journalismus erwarte ich trotzdem etwas anderes.

    Herzlichen Gruss
    Maria

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  2. Agota Kristofs Werk 'Die Analphabetin' hat mich sehr bewegt damals, als ich es gelesen habe.
    Wohl deshalb auch habe ich den Beitrag von Frau Berg so intensiv mitgelesen.
    Laut Wikipedia,
    liebe Maria,
    stimmt deine Aussage. Ich habe leider erst vorhin die Seite genau nachgeprüft...
    Somit hätte Frau Berg unrecht mit ihrem Vorwurf.
    "Was bin ich wütend", schreibt sie. Heftige Gefühle können objektives Nachforschen behindern. Das macht es für mich erklärbar. Und ist trotzdem keine Entschuldigung.

    Danke für deinen Kommentar und dein genaues Beobachten,
    Hausfrau Hanna

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  3. In ihren Kindheitserinnerungen habe ich gelesen. Überaus drastische Szenen, so intensiv, dass ich es weglegen musste, das Buch- ich glaube, es war "Sammelhefte"- ein Weiterlesen hätte mich über Gebühr belastet und aufgewühlt. Musste mich abgrenzen, schützen. Konnte ich früher nicht.-
    Wie gut jetzt Marias Kommentar gegen das wieder so Drastische von Frau Berg....

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  4. Und genau das hat mich gestern gepackt, liebe Frau Wildgans,
    dass Sibylle Berg in ihrer Kolumne so übersteigert anschaulich der Bedeutsamkeit und dem Genie der Autorin Raum gab in einer Welt des Mittelmasses - zu der auch ich gehöre...

    Einen schönen Sonntag wünscht
    Hausfrau Hanna

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  5. Ich las vor einigen Jahren, damals noch im Gymi, ebenfalls "le grand cahier". Vielleicht war ich damals noch zu jung, obschon sehr interessiert an Literatur, aber eben vielleicht noch zu jung. Ich verstand zwar, um was es ging, hatte aber mit Kristofs' sparsamen Schreibstil Mühe, der in mir stets ein Gefühl der Beklommenheit auslöste. Vermutlich sollte er es auch genau. Nun ja. Auf jeden Fall sehe ich das auch so, mit der Welt des Mittelmasses. Immer wieder. Und immer wieder das Gefühl vom Erdrücktwerden.

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  6. Vielleicht lesen Sie das Buch jetzt nochmals,
    lieber Monsieur Croche,
    und haben einen andern Zugang - auch zum sparsamen Schreibstil der Autorin!

    Ich habe mir jedenfalls vorgenommen, 'Das grosse Heft' zu lesen und mir dadurch eine eigene Meinung zu bilden.

    Herzlich Hausfrau Hanna

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