Gestern feierte die älteste und am längsten hier wohnende Mieterin ihren 95. Geburtstag.
Sie ist in den Jahren, die wir hier wohnen, klein und gebückt geworden, und ihre körperlichen Kräfte haben nachgelassen. Ihre geistige Präsenz und ihre Freude am Diskutieren und am Austausch - aber auch die Klarheit, mit der sie sich immer wieder abgrenzt gegen zuviele 'Verhätschelungen' von unserer Seite, beeindrucken mich. Sie lehrt mich mehr über das hohe Alter, als alle Ratgeber und Bücher über das Alter zusammen es täten...
Kürzlich traf ich sie an im Treppenhaus. Sie benützte die Wand als Rückenstütze, und so konnten wir uns über längere Zeit unterhalten:
Über den Herbst und den nun bald beginnenden Winter.
Über Schreibende, die in Gedichten ihre Gefühle und Bilder zur dunkeln Jahreszeit hin zu uns transportieren und uns berühren.
Und dann rezitierte sie mit tragender, kräftiger Stimme ein Gedicht, ohne sich ein einziges Mal besinnen zu müssen oder im Fluss gebremst zu werden:
Oktober
Oktober schüttelt das Laub vom Baum
und gibt es den Winden zu eigen.
Die führen es fort im weiten Raum,
weit fort von den trauernden Zweigen.
Die stehen jetzt da mit kahlem Haupt:
Wer hat uns beraubt, wer hat uns entlaubt?
Wo sind die Blätter, die lieben, geblieben?
Doch die, vom wirbelnden Winde getrieben,
haben längst vergessen, wo sie gesessen.
Rudolf Löwenstein (1819-1891)
PS.Ich kannte weder die Worte noch den Verfasser.
PPS. Dank Google steht es nun hier.
solche Begegnungen sind ein Geschenk...
AntwortenLöschenWow, mit 95 noch in den eigenen vier Wänden leben und erst noch so gut "zwäg" zu sein, dass man ein Gedicht auswendig kann. Letzteres schaffe ich bereits mit 46 nicht mehr.
AntwortenLöschen@Lisette
AntwortenLöschen...da kann ich ich nur zustimmen :-)
@flohnmobil
AntwortenLöschenAuswendig!?! Mit Müh und Not bringe ich bei Liedern die erste Strophe zusammen - bei Gedichten fallen mir, wenn es gut läuft, die ersten drei, vier Wörter ein...;-)
Wartet ab, bis ihr ins hohe Alter gekommen seid. Dann fallen euch die Gedichte wieder ein. Ich kenne jemanden im Alter von Mitte 80, der an Alzheimer leidet. Je mehr sich das ausprägt, desto mehr Gedichte sagt er auf ...
AntwortenLöschen(Ich hoffe, unsere Kinder zitieren einst keine Werbeslogans)
@Anhora
AntwortenLöschenMeinst du wirklich?
Dann lässt mich die Menge Kirchenlieder, die wir in Kinderlehre und Religionsunterricht auswendig kennen mussten und die wöchentlich zu lernenden mehrstrophigen Gedichte in Muttersprache Deutsch fröhlich in die Zukunft blicken...;-)